Der „Off-Label Use“ am Beispiel der Botulinumtoxin-Therapie

Von Simone Vogt (September 2016)

Zusammenfassung

In Deutschland wird die Anwendung eines Medikaments durch die Medikamentenzulassung geregelt. Außerhalb der zugelassenen Indikationen erfolgt die Anwendung im sogenannten Off-Label Use (OLU). Wichtig in der Praxis ist dabei, dass die Erstattungspflicht der Medikamentenkosten sowohl der gesetzlichen als auch der privaten Krankenkassen an die Zulassung der Indikation gebunden ist. Anhand der Botulinumtoxin-Therapie soll die OLU-Problematik Use in der Neurologie dargestellt werden.

Der behandelnde Arzt ist verpflichtet, OLU-Behandlungen anzubieten. Der Krankenkasse wird im Gegenzug unter bestimmten Bedingungen einer Erstattungspflicht der Medikamentenkosten auferlegt. Wird im Rahmen eines Regressverfahrens das Fehlen der Voraussetzungen für eine OLU-Kostenerstattung festgestellt, wird der Arzt gegenüber der Krankenkasse schadensersatzpflichtig. 2002 hat das Bundessozialgericht der Krankenkasse unter bestimmten Bedingungen eine OLU-Erstattungspflicht auferlegt. Zusätzlich hat das Bundesverfassungsgericht gefordert, dabei die Anforderungen an den OLU-Wirkungsnachweis nicht zu hoch anzusetzen. Von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt hat das Bundessozialgericht in 2011 die OLU-Erstattungspflicht weitestgehend zurückgenommen. Darüber hinaus sichert die Neuregelung des Sozialgesetzbuchs V von 2013 eine rasche Bearbeitung der OLU-Anträge.

Trotz aller Durchführungsschwierigkeiten hat sich die Koppelung der Kostenübernahme an die Medikamentenzulassung und den OLU bewährt. Allerdings erfordert dieses Verfahren ein erhebliches Augenmaß aller Beteiligten. Die Pharmaindustrie sollte zur Beantragung möglichst vieler Indikation angeregt werden, während die Zulassungsbehörden die Zulassungen möglichst breit erteilen sollten.

 

Einleitung

In Deutschland wird ein Arzneimittel im Regelfall durch die Erteilung einer Zulassung in den Verkehr gebracht. Die Voraussetzungen hierfür richten sich nach dem Arzneimittelgesetz (AMG). Diese Zulassung wird entweder vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), dem Paul-Ehrlich Institut (PEI) oder im Rahmen einer zentralisierten Zulassung der Europäischen Union durch die European Medicines Agency (EMA) erteilt. In dem erteilten Zulassungsbescheid wird geregelt, für welche Indikationen das Medikament eingesetzt werden kann. Darüber hinaus werden Dosierungen, Darreichungsformen und weitere Details beschrieben. Mit der Zulassung des Arzneimittels haftet der Hersteller für Gesundheitsschäden bei Patienten, die beim bestimmungsgemäßen Gebrauch über das medizinisch vertretbare Maß hinausgehen, sowie für Gesundheitsschäden, die aufgrund einer fehlenden Kennzeichnung eingetreten sind.

Mit der Medikamentenzulassung ist eine Erstattungspflicht durch die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) verbunden. Außerhalb dieser Erstattungspflicht dürfen die GKV-Kassen im Regelfall keine Kostenübernahme aussprechen. Für die Privaten Krankenversicherungen (PKV) ergibt sich eine ähnliche Erstattungspflicht aus den jeweiligen Verträgen zwischen Versicherungsgeber und Versicherungsnehmer. Hier ist jedoch eine freiwillige Kostenübernahme durch die PKV jeder Zeit möglich.

Neben der Anwendung eines Arzneimittels im Rahmen einer Medikamentenzulassung, dem sogenannten bestimmungsgemäßen Gebrauch, ist jedoch auch eine Anwendung im Rahmen eines zulassungsüberschreitenden Einsatzes möglich. Diese Form der Anwendung wird auch in Deutschland üblicherweise als Off-Label Use (OLU) bezeichnet.

Als Compassionate Use wird die Anwendung einer nicht zugelassenen Substanz oder eines noch nicht zugelassenen Medikaments bezeichnet. Bei einem Heilversuch hingegen, wie der Begriff schon sagt, handelt es sich in einem Einzelfall um einen Therapieversuch, da entweder die zugelassenen Therapien scheiterten und/oder gar nicht zur Verfügung stehen.

 

Probleme des Off-Label Use in Deutschland

Probleme treten auf, wenn der Einsatz eines Arzneimittels notwendig wird, das in Deutschland für die spezielle Anwendung keine Zulassung besitzt. Neben bestimmten haftungsrechtlichen Fragen treten am häufigsten finanzielle Probleme auf, wenn der GKV-Patient oder der PKV-Patient für das entsprechende Arzneimittel von seiner Versicherung eine Kostenübernahme fordert.

Arzneimittelzulassungen sind teuer und zeitaufwendig. Daher überlegen die Arzneimittelhersteller genau, für welche Indikationen eine Zulassung beantragt werden soll. Wenn der zu erwartende Gewinn und die Kosten einer Zulassung nicht in einem wirtschaftlich vertretbaren Verhältnis stehen, wird eine Zulassung nicht beantragt. Hieraus ergeben sich besondere Probleme für Patienten mit seltenen Erkrankungen und für Medikamente mit niedrigen Preisen, wie sie häufig durch den Ablauf der Patentlaufzeit bedingt sind.

Um die medizinischen, juristischen und ökonomischen Dimensionen des OLU beurteilen zu können, ist es notwendig, sein Ausmaß zu kennen. Erstaunlicherweise liegen hierfür keine genauen Zahlen vor. Insgesamt ist jedoch von einem erheblichen Umfang des OLU auszugehen. Von einem OLU sind insbesondere die Bereiche der Medizin betroffen, die einem besonders raschen Fortschritt ihrer Therapieoptionen unterliegen. Hier kommt es zu erheblichen Diskrepanzen zwischen dem Stand des medizinischen Wissens und dem Zulassungsstatus der verwendeten Arzneimittel. Dies scheint besonders in der Onkologie der Fall zu sein. Ebenfalls in erheblichem Umfang betroffen ist die Neurologie. Da Arzneimittel aus juristischen Gründen zunächst meist an Erwachsenen getestet werden und sich daher eine spätere Zulassungsbeschränkung auf Erwachsene ergibt, ist der OLU in der Pädiatrie ebenfalls weit verbreitet. Schätzungen gehen davon aus, dass bis zu 90% der bei Kindern angewandten Medikamente ohne eine spezielle Zulassung für das Kindesalter eingesetzt werden. [2]

Wesentliche Unterschiede in der OLU-Häufigkeit scheint es zwischen den europäischen Ländern und Nordamerika nicht zu geben. Einzig in Japan scheint der OLU deutlich restriktiver gehandhabt zu werden.

Definition des Off-Label Use

Nach § 35c SGB V und § 32 Arzneimittelrichtlinie (AM-RL) liegt eine zulassungsüberschreitende Anwendung (OLU) vor, wenn ein Arzneimittel für eine Indikation angewendet wird, für die es nach dem AMG nicht zugelassen ist. Weitergehende gesetzliche OLU-Definitionen finden sich nicht. Demnach könnte man schlussfolgern, dass andere wesentliche Medikamenteneigenschaften nicht Gegenstand einer OLU-Beurteilung sind. Unklar ist jedoch, ob es sich hierbei um eine taxative (abschließende) oder demonstrative (beispielhafte) Aufzählung handelt. Von der US Food and Drug Administration (FDA) wird jedoch – letztendlich konsequenterweise – ein OLU angenommen, wenn bereits ein einziges der wesentlichen Arzneimittelmerkmale der Zulassung verletzt wird (FDA 1997). Damit ergeben sich hier ein qualitativer OLU, wenn die Indikation der Zulassung verletzt wird und ein quantitativer OLU, wenn die Dosierung der Zulassung verletzt wird. Weitere OLU-Formen können die Darreichungsform und weitere Arzneimittelmerkmale betreffen. In der momentanen Praxis wird fast ausschließlich der qualitative OLU berücksichtigt, wenngleich auch zunehmend über einen quantitativen OLU gestritten wird.

Die Botulinumtoxin-Therapie

Kein anderes Medikament wird in einer ähnlichen Dosierungsbreite angewendet wie Botulinumtoxin (BT). Während bei der Behandlung von spasmodischer Dysphonie Botox®- oder Xeomin®-Dosen von etwa 2MU zur Anwendung kommen, können sie bei der Behandlung schwerer Spastik im Moment bis zu etwa 1200MU betragen. Darüber hinaus wird wohl auch kaum ein anderes Medikament in ähnlich vielen unterschiedlichen Indikationen angewendet. Nach einer kürzlich erschienenen Übersichtsarbeit wird BT in mindestens 8 medizinischen Fächern angewendet. [1] Dabei werden mindestens 80 medizinische Indikationen aufgezählt. [1] Weltweit zugelassen sind dabei lediglich zervikale Dystonie, Blepharospasmus, Spasmus hemifacialis, Armspastik, Beinspastik, Zerebralparese, axilliäre Hyperhidrose, chronische Migräne und Blasenfunktionsstörungen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass für die meisten dieser Indikationen erhebliche Einschränkungen der Anwendung vorgegeben werden. So darf etwa die Spastik lediglich behandelt werden, wenn sie nach einem Hirninfarkt auftritt, nicht jedoch, wenn sie zum Beispiel Folge einer Multiplen Sklerose ist. Zusätzlich dazu liegen bei der Armspastik Indikationsbegrenzungen hinsichtlich der Auswahl der Zielmuskeln vor. Bei zervikaler Dystonie wird die Anwendung bei einigen BT-Medikamenten auf die Behandlung überwiegend rotatorischer Formen begrenzt. Komplizierend tritt hinzu, dass selbst bei einer zugelassenen Indikation die verschiedenen BT-Medikamente unterschiedliche Zulassungsdetails aufweisen.

Eine weitere Besonderheit der BT-Therapie besteht darin, dass sich der Gesamtverbrauch von BT-Medikamenten, der zur Zeit weltweit bei etwa 3 Milliarden US$ liegen dürfte, auf sehr viele Indikationen verteilt, von denen jeweils nur kleine Gruppen von Patienten betroffen sind. Wenn man fokale Dystonien in zervikale, kraniale, mandibuläre, pharyngeale, laryngeale Dystonien etc. unterteilt, dann ist die Zahl der jeweils betroffenen Patienten sehr gering. Trotzdem wurde für die allermeisten dieser Patienten mit einer BT-Therapie eine Behandlungsqualität erbracht, die mit konventionellen oder alternativen Therapien nicht im Entferntesten zu erreichen sind.

Ein zusätzliches Merkmal der BT-Therapie liegt darin, dass BT lokal appliziert wird. Damit berechnet sich seine Dosierung nach der Zahl und der Schwere der Betroffenheit der Zielmuskeln und nicht nach einem Gewebespiegel. Das ist ein erheblicher Unterschied gegenüber den üblichen oralen Therapien. Aus dieser Tatsache resultieren gravierende Missverständnisse und Probleme bei den Zulassungsverfahren von BT-Medikamenten.

Die Kostenerstattung beim Off-Label Use

Das Sozialgesetzbuch V (SGB V) legt fest, dass die Versorgung mit Arzneimitteln notwendig, ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich erfolgen muss. Nach § 2 SGB V haben gesetzlich versicherte Patienten Anspruch darauf, nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse unter Berücksichtigung des medizinischen Fortschritts behandelt zu werden. Der behandelnde Arzt ist damit verpflichtet, diese Behandlung seinen Patienten anzubieten, auch wenn sie einen OLU einschließt (vgl. OLG Köln, Urteil vom 30.05.1990, Az. 27 U 168/89). Die GKV-Kassen müssen im Gegenzug die dafür notwendigen Medikamentenkosten übernehmen. Allerdings können die Krankenkassen im Rahmen eines Regressverfahrens rückwirkend für einen Zeitraum von bis zu 3 Jahren überprüfen lassen, ob die Voraussetzungen für eine Kostenübernahme im OLU-Verfahren erfüllt sind. Grundlage dieser Überprüfung ist die im Nachfolgenden dargestellte Rechtsprechung. Liegen die OLU-Kriterien nicht vor, wird der Arzt der GKV-Versicherung des Patienten gegenüber schadenersatzpflichtig. Auf ein Verschulden des Arztes kommt es nicht an.

In dieser Situation ist der Arzt sowohl durch die SGB-Haftung dem GKV-Patienten gegenüber als auch durch den Regress der GKV-Versicherung gegenüber bedroht. Zusätzlich dazu ist auch eine unterlassene Hilfeleistung nach dem Strafgesetzbuch zu prüfen. Auf Grund der unterschiedlichen Rechtszüge sind divergierende Rechtsauffassungen der jeweiligen Gerichte nicht auszuschließen.

Der Off-Label Use in der deutschen Rechtsprechung

In einem Urteil (BSG, Urteil vom 19.03.2002, Az. B 1 KR 37/00 – R) zur Verordnung von Immunglobulin bei Multipler Sklerose hat der 1. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) eine grundsätzliche OLU-Entscheidung getroffen. Danach besteht eine Erstattungspflicht der GKV, wenn folgende Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind:

  • Es handelt sich um eine schwerwiegende, d.h. lebensbedrohliche oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung.
  • Eine andere Therapie ist nicht verfügbar.
  • Auf Grund der Datenlage besteht die begründete Aussicht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) zu erzielen ist.

Letzteres ist erfüllt, wenn die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt ist und die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit bzw. einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen. Letzteres ist ebenfalls erfüllt, wenn außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen aufgrund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht.

Ergänzend hierzu hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 06.12. 2005 (‚Nikolausbeschluss‘) eine verfassungskonforme Auslegung dieser Voraussetzungen gefordert und festgehalten, dass bei einer lebensbedrohlichen und regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung die Anforderungen an den wissenschaftlichen Nachweis nicht zu hoch angesetzt werden dürfen (BVerfG, Beschluss vom 06.12.2005, Az. 1 BvR 347/98).

In einem Urteil (BSG, Urteil vom 08.11.2011, Az. B 1 KR 19/10 R)zur Verordnung von BT bei infantiler Zerebralparese mit spastischer Paraparese hat das BSG eine weitere grundlegende OLU-Entscheidung getroffen. Im vorliegenden Fall erfolgte eine Behandlung der Oberschenkel-Adduktoren mit dem BT-Medikament Botox®, obwohl dieses BT-Medikament für die Behandlung der Beinspastik und für die spezielle Ätiologie einer Multiplen Sklerose keine Zulassung besitzt. In diesem Urteil hat das BSG entschieden, dass außerhalb und während eines Zulassungsverfahrens die Qualität der wissenschaftlichen Ergebnisse über den Behandlungserfolg, die für eine zulassungsüberschreitende Therapie auf Kosten der GKV nachgewiesen sein muss, der Zulassungsreife eines Arzneimittels entsprechen muss. Dies bedeutet, dass der während und außerhalb eines Zulassungsverfahrens zu erbringende wissenschaftliche Nachweis durch Studien erbracht werden muss, der die an eine Phase III-Studie zu stellenden qualitativen Anforderungen erfüllt. Die Anforderungen an den Nachweis der Wirksamkeit wurden damit deutlich angehoben und so weit verschärft, dass eine OLU-Kostenübernahme außer bei einer unmittelbar bevorstehenden Zulassung ausgeschlossen wurde.

Mit dem Versorgungsstrukturgesetz (VStG) hat der Gesetzgeber § 2 SGB V um einen Absatz ergänzt. Nach § 2 Abs. 1 a SGB V können Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsgemäß vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, eine nicht dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse abweichende Leistung beantragen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Entwicklung auf den Krankheitsverlauf besteht. Die Krankenkasse erteilt für die Leistungen vor Beginn eine Kostenübernahmeerklärung, wenn Versicherte oder behandelnde Leistungserbringer dies beantragen. In der Kostenübernahmeerklärung wird die Abrechnungsmöglichkeit der Leistung nach Satz 1 festgestellt.

Darüber hinaus ist seit dem 26. Februar 2013 der neue § 13 Abs. 3 a SGB V in Kraft getreten, der vorsieht, dass die Krankenkasse über den Antrag eines Patienten innerhalb von drei Wochen nach Eingang des Antrages entscheiden muss. Muss ein Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen eingeholt werden, verlängert sich die Frist auf fünf Wochen nach Antragseingang. Der Medizinische Dienst muss das Gutachten innerhalb von drei Wochen erstellen. Sofern die Krankenkasse diese Frist nicht einhalten kann, muss sie dies schriftlich begründen. Sie kann sich dabei nicht auf Gründe aus ihrem Verantwortungsbereich wie Organisationsmängel, Arbeitsüberlastung oder Ähnliches berufen. Reagiert die Krankenkasse nicht innerhalb der Frist, gilt die Genehmigung als erteilt.

Daneben gibt es noch weitere gesetzlich vorgesehene Fälle, die zu einer Erstattungspflicht der Krankenkasse führen können.

Eine OLU-Erstattungspflicht der GKV-Kassen kann auch durch einen Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) herbeigeführt werden. Kürzlich wurde vom G-BA eine OLU-Erstattungspflicht für Botox® und Dysport® bei der Behandlung der spasmodischen Dysphonie beschlossen.

Zudem kann eine Erstattungspflicht der GKV-Kassen über einen Einzelimport des Arzneimittels aus einem Land erreicht werden, in dem das Arzneimittel zugelassen ist. Dies ist zulässig, wenn ein sogenannter Seltenheitsfall vorliegt, d.h. dass es sich um eine sehr seltene Erkrankung handelt, die nicht systematisch auf ihre Therapiemöglichkeiten erforscht werden kann und für die keine anderen Therapien zur Verfügung steht. Dabei muss ein Mindestmaß an Arzneimittel- und Behandlungsqualität eingehalten werden. Darüber hinaus muss es sich um eine notstandsähnliche Situation handeln, d.h. es muss eine schwerwiegende Erkrankung vorliegen und es müssen Belege für die Wirksamkeit des Arzneimittels vorliegen (BSG, Urteil vom 19.10.2004, Az. B 1 KR 27/02 R).

Schließlich kann eine Erstattungspflicht der GKV-Kassen in Einzelfällen auch durch den Nachweis eines Systemversagens aufgrund zögerlicher und willkürlicher Bearbeitung eines Zulassungsantrages beim BfArM oder der Expertengruppe nach § 35 b SGB V herbeigeführt werden.

Praktisches Vorgehen zur Durchsetzung einer Kostenerstattung des Off-Label Use

GKV-Kassen:

Es gibt zwei Wege, um eine OLU-Kostenerstattung herbeizuführen. Auf dem ersten Weg kann der behandelnde Arzt ein GKV-Rezept ausstellen. Dann bekommt der Patient das Arzneimittel von seiner Apotheke ausgehändigt. Damit steht dem Patienten das Arzneimittel unmittelbar zur Behandlung zur Verfügung und die GKV-Kasse muss zunächst die Arzneimittelkosten übernehmen. Ist die Krankenkasse der Ansicht, dass es sich nicht um einen erstattungsfähigen OLU handelt, wird sie ein Regressverfahren gegen den Arzt anstrengen, d.h. der Arzt trägt das finanzielle Risiko.

Auf dem zweiten Weg beantragt der Patient vorab bei der GKV-Kasse eine Kostenübernahme nach § 2 Abs. 1 a SGB V. Bis dato wurde dem Antragsteller regelmäßig mitgeteilt, dass eine vorherige Kostenübernahmeerklärung gesetzlich nicht vorgesehen sei und die Arzneimittelverordnung allein dem behandelnden Arzt obliege. Durch die Novellierung des SGB V wird jetzt erstmalig der GKV eine Entscheidungspflicht auferlegt. Mit § 13 Abs. 3 a SGB V wird das Verfahren sogar beschleunigt.

In der Sache wird die GKV in der Regel eine Stellungnahme des MDK einholen. Dieser entscheidet überwiegend nach Aktenlage, d.h. der Patient wird nicht untersucht. Häufig werden allerdings diese Stellungnahmen von Allgemeinärzten oder fachfremden Fachärzten durchgeführt. Obwohl der MDK als eine Behörde des Öffentlichen Rechts firmiert, drängt sich die Frage der wirklichen Unabhängigkeit gegenüber den GKV-Kassen auf.

Wird die Kostenerstattung abgelehnt, so bleibt dem Patienten die sozialgerichtliche Klage gegen seine GKV-Kasse. Eilverfahren sind möglich. Der behandelnde Arzt kann zudem ein Privat-Rezept ausstellen. Dann muss der Patient die Kosten des Arzneimittels zunächst selbst übernehmen und versuchen, sie bei seiner Krankenkasse zurückerstatten zu lassen.

 

PKV-Kassen: Versicherte in PKV-Kassen müssen die Medikamentenkosten in der ambulanten Versorgung zunächst selbst übernehmen und beantragen dann die Erstattung durch ihre PKV. Dieser Antrag kann ebenfalls mit dem Argument des Fehlens einer Medikamentenzulassung in dieser Indikation und mit dem Argument des Nicht-Vorliegens der OLU-Kriterien abgelehnt werden. Gegen diese Entscheidung kann der PKV-Patient privatrechtlich vorgehen. Alternativ kann auch der PKV-Patient eine vorherige Kostenübernahmeerklärung beantragen, die ihm unter Umständen verweigert werden kann.

Der Off-Label Use in Deutschland im Ausblick

Unstrittig ist, dass das Inverkehrbringen eines Arzneimittels im Regelfall durch eine entsprechende Zulassung zu erfolgen hat. Unstrittig sollte jedoch auch sein, dass zusätzlich zur regulären Zulassung grundsätzlich ein OLU möglich sein muss. Allerdings zeigt das weltweite Ausmaß des OLU, dass die momentanen Regelungen versagen und ein erheblicher Handlungsbedarf besteht.

Zunächst einmal muss der pharmazeutische Unternehmer motiviert werden, eine möglichst breite Zulassung seines Arzneimittels zu beantragen. Orphan Drug-Regelungen können hier bei seltenen Erkrankungen hilfreich sein. Darüber hinaus müssen unsinnige Verengungen der Zulassungen, wie wir sie bei den Zulassungen der BT-Medikamente sehen, vermieden werden. So ist die Bindung einer symptomatischen Therapie an eine spezifische Ätiologie des behandelnden Krankheitsbildes ein logischer Fehler und muss fallengelassen werden. Die absolute Begrenzung einer Zulassung auf die Details der Zulassungsstudien muss ebenfalls aufgegeben werden. Die Effektivität und Sicherheit einer Spastikbehandlung mittels einer BT-Therapie kann für die Injektion aller Armmuskeln angenommen werden, auch wenn in der Zulassungsstudie nur eine bestimmte Auswahl der Armmuskeln getestet worden ist. Darüber hinaus sollten alle einschränkenden Merkmale einer Zulassung überdacht werden. Nachdem in den Zulassungsstudien bestimmte BT-Dosen dokumentiert worden sind, ist zwar ein Hinweis auf den aktuellen Kenntnisstand der BT-Dosierung zulässig und hilfreich, eine abschließende Festsetzung absoluter Höchstdosen, die nicht durch Studienergebnisse oder wissenschaftliche Erkenntnisse begründet sind, ist jedoch für die Weiterentwicklung der Therapie kontraproduktiv. Insgesamt scheint die Balance zwischen berechtigten Interessen der Arzneimittelsicherheit und einer hochqualitativen Arzneimittelversorgung aus dem Gleichgewicht geraten zu sein. Zulassungsverfahren müssen dringend vereinfacht und damit verkürzt und kostengünstiger gemacht werden. An diesem Punkt ist eine enge Zusammenarbeit aller Betroffenen, d.h. von Behörden, Arzneimittelherstellern, Patienten und Ärzten, notwendig, um möglichst breit angelegte Indikationen zu schaffen und so das OLU-Ausmaß zu reduzieren.

Bei der Administrierung des dann noch notwendigen OLU müssen die über Jahrzehnte entwickelten und bewährten Elemente des deutschen Sozialstaats bewahrt werden. Die Entwicklung der Rechtsprechung der letzten Jahre zeigt eine zunehmende Verlagerung der Therapieentscheidung vom unabhängigen und mit dem konkreten Einzelfall befassten Arzt hin zu den Kostenträgern, d.h. den Krankenkassen. Damit wird dann eine ‚Therapie nach Kassenlage‘ absehbar. Auf diese Weise lassen sich zwar Kosten im Gesundheitssystem senken, bestimmte hochwertige Therapien werden dann jedoch nicht mehr allen Patienten zur Verfügung gestellt werden können.

Referenzen

1 Dressler D (2012) Clinical applications of Botulinumtoxin. Curr Opin Microbiol 15:325-336.

2 Müller W (2010) Off-Label-Use: Brisantes Spiel mit Nebenwirkungen. Focus-Online, 14.01.2010. www.focus.de/gesundheit/ratgeber/medikamente/risiko/tid-16045/off-label-use-fuer-kinder-oft-die-einzige-alternative_aid_449744.html