Umsetzung der quartalsgleichen Prüfung in Rheinland-Pfalz ist rechtswidrig

RA Dr. Florian Wolf, Fachanwalt für Medizinrecht

(Februar 2019)

 

Problemstellung

Die Gemeinsamen Prüfeinrichtungen in Rheinland-Pfalz führen seit vielen Jahren sogenannte „quartalsgleiche Prüfungen“ durch, bei denen die Wirtschaftlichkeit der erbrachten ärztlichen Leistungen geprüft wird. Ziel ist es, durch einen statistischen Vergleich Leistungen herauszufiltern, die deutlich häufiger erbracht werden, als dies im Durchschnitt der jeweiligen Vergleichsgruppe der Fall ist. Der Regress soll dann direkt im Honorarbescheid desselben Quartals berücksichtigt werden.

Bedingt durch den erheblichen Zeitdruck, unter dem die Gemeinsamen Prüfeinrichtungen stehen – zwischen der Abgabe der Sammelerklärung und dem Verschicken der Honorarbescheide liegen nur wenige Monate – wird das Prüfverfahren eher oberflächlich geführt.

Eine effektive Anhörung findet nicht statt. Bedenken hinsichtlich der Rechtmäßigkeit dieser Praxis haben weder die Gemeinsamen Prüfeinrichtungen noch die Kassenärztliche Vereinigung, schließlich könne der Mangel im Widerspruchsverfahren geheilt werden.

Auch Praxisbesonderheiten werden nicht geprüft. So kommt es zu Diskrepanzen zwischen Prüfungen über die Wirtschaftlichkeit der Verordnungsweise, in denen Praxisbesonderheiten anerkannt werden, und den quartalsgleichen Prüfungen über die Behandlungsweise, in denen die Gemeinsame Prüfeinrichtung zum selben Sachverhalt keine Praxisbesonderheiten anerkennt.

Der von den Gemeinsamen Prüfeinrichtungen sozusagen im „Schnellverfahren“ ausgeworfene Regress wird von der KV im Honorarbescheid direkt umgesetzt, gleichgültig, ob Widerspruch gegen den Regressbescheid eingelegt wurde, oder nicht.

 

Das Verfahren

Gegen die Berücksichtigung des Regresses trotz Widerspruch wandte sich der Kläger und legte gegen den Honorarbescheid Widerspruch ein.

Der Widerspruch gegen den Regressbescheid habe gem. § 106 Abs. 5 S. 4 SGB V aufschiebende Wirkung.

Die KV vertrat demgegenüber die Ansicht, § 87 b Abs. 2 S. 6 SGB V, welcher die aufschiebende Wirkung bei Widersprüchen gegen Honorarbescheide ausschlösse, sei die speziellere Norm und gehe deswegen vor. Der Regress dürfe im Honorarbescheid umgesetzt werden.

 

1.

Dabei vermischte die KV allerdings die verschiedenen Widersprüche gegen die verschiedenen Bescheide. Widerspruch war zunächst gegen den Regressbescheid eingelegt worden. Entscheidend war daher zunächst, ob dieser Widerspruch aufschiebende Wirkung hatte. Dass der Widerspruch gegen den Honorarbescheid selbst keine aufschiebende Wirkung hatte, bestritt der Kläger nicht.

§ 106 Abs. 5 SGB V bestimmte in der Fassung von 2016 in den Sätzen 3 ff.:

„Gegen die Entscheidungen der Prüfungsstelle können die betroffen Ärzte und ärztlich geleiteten Einrichtungen, die Krankenkasse, die betroffenen Landesverbände der Krankenkassen sowie die Kassenärztlichen Vereinigungen die Beschwerdeausschüsse anrufen. Die Anrufung hat aufschiebende Wirkung. (…). Die Klage gegen eine vom Beschwerdeausschuss festgesetzte Honorarkürzung hat keine aufschiebende Wirkung.“ (Hervorhebung durch den Unterzeichner)

§ 87 b Abs. 2 S. 6 SGB V wiederum bestimmt unter der Überschrift „Vergütung der Ärzte (Honorarverteilung)“:

„Widerspruch und Klage gegen die Honorarfestsetzung sowie gegen deren Änderung oder Aufhebung haben keine aufschiebende Wirkung.“

Folge der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs ist, dass der Prüfbescheid keine Wir- kung entfaltet:

„Während des durch die aufschiebende Wirkung bedingten Schwebezustandes dürfen aus dem angefochtenen Verwaltungsakt keine Folgerungen gezogen werden und dieser darf nicht umgesetzt werden.“ (BSGE 117, 288-297, Rn. 23)

Mithin wurde aufgrund der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs keine unwirtschaftliche Behandlungsweise festgestellt. Ein Verwaltungsakt, der einen Regress aussprechen würde, ist aufgrund des Widerspruchs quasi nicht-existent; er entfaltet jedenfalls keine Rechtswirkung.

Einen vollziehbaren Bescheid, auf den der Einbehalt der Differenz gestützt werden könnte, gibt es nicht.

 

2.

Soweit das Ergebnis nach allgemeinen verwaltungsrechtlichen Regeln, die so auch im SGG und im SGB X gelten.

Die KV war demgegenüber der Ansicht, dass § 87 b Abs. 2 S. 6 SGB V und § 106 Abs. 5 SGB V in einem Regel-Ausnahme-Verhältnis stünden, weswegen § 106 Abs. 5 SGB V vorgehe und über den Umweg des Honorarbescheides auch den Widerspruch gegen den Regressbescheid umfasse.

Hierfür gibt es aber keine Anhaltspunkte.

Der Wortlaut bietet weder in § 87 b SGB V noch in § 106 SGB V irgendwelche Anhaltspunkte dafür, dass beide Vorschriften zu einander in einem Regel-Ausnahme-Verhältnis stehen würden, oder dass in irgendeiner Konstellation die Anrufung des Beschwerdeausschusses keine aufschiebende Wirkung haben soll.

Auch systematisch zeigen schon die Regelungen zum Honorarbescheid in § 87 b SGB V „Vergütung der Ärzte (Honorarverteilung)“ einerseits und die Regelung der Wirtschaftlichkeitsprüfung in § 106 ff. SGB V unter einem eigenen Titel „Wirtschaftlichkeits- und Abrechnungsprüfung“ andererseits, dass es sich um zwei verschiedene Themenkreise handelt, die der Gesetzgeber nicht vermischt haben wollte.

§ 87 b Abs. 2 S. 6 SGB V kann daher schon deswegen nicht lex specialis sein, weil er einen gänzlich anderen Regelungsgegenstand hat.

Honorarverteilung und Wirtschaftlichkeitsprüfung sind im SGB V getrennt. Sie stehen in zwei verschiedenen Titeln des SGB V, die noch dazu weit voneinander entfernt stehen: die Honorarverteilung ist im 3. Titel des 2. Abschnitts zum 4. Kapitel des SGB V geregelt, die Wirtschaftlichkeitsprüfung hingegen im 9. Kapitel.

Die Honorarverteilung obliegt allein der Beklagten, beeinflusst allenfalls durch Vorgaben der KBV. Die Wirtschaftlichkeitsprüfung obliegt hingegen der Beklagten und den Kassen.

Irgendwelche Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber „quartalsgleiche Prüfungen“ gegenüber sonstigen Wirtschaftlichkeitsprüfungen privilegieren wollte, gibt es nicht und lassen sich vor allem nicht der Entstehungsgeschichte entnehmen.

Die These wäre auch nicht mit Sinn und Zweck des §§ 86 a Abs. 1 S. 1 SGG, 106 Abs. 5 S. 4 SGB V in Einklang zu bringen.

Sinn und Zweck der Anordnung der aufschiebenden Wirkung in § 106 Abs. 5 S. 6 SGB V ist es, der grundrechtlichen Garantie effektiven Rechtsschutzes gem. Art. 19 Abs. 4 GG Geltung zu verleihen und zu verhindern, dass vor einer Überprüfung der Entscheidung durch die Gerichte von der Verwaltung vollendete Tatsachen geschaffen werden. Entsprechend dieser Bedeutung des Grundsatzes des § 86 a Abs. 1 S. 1 SGG, der in § 106 Abs. 5 S. 6 SGB V für das Verfahren vor dem Beschwerdeausschuss sogar wiederholt wird, können es nur überwiegende öffentlich-rechtliche Belange rechtfertigen, den Rechtsschutzanspruch des Grundrechtsträger einstweilen zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des Allgemeinwohls rechtzeitig in die Wege zu leiten.

Die Fälle, in denen der Gesetzgeber die aufschiebende Wirkung ausschließen wollte, sind bei einer verfassungskonformen Auslegung eng auszulegen.

Sinn und Zweck des Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung in § 87 b Abs. 2 S. 6 SGB V ist es, die finanzielle Funktionsfähigkeit der vertragsärztlichen Leistungserbringung zu sichern. Insbesondere im Fall massenhaft erhobener Widersprüche gegen Regelungen in EBM oder HVM könnte es sonst zu Liquiditätsengpässen kommen.

Diese Erwägungen gelten indessen im Falle der Wirtschaftlichkeitsprüfung nicht. Denn der Bescheid der Prüfstelle dient nicht der Verwirklichung eines festgestellten Anspruchs auf Honorarrückforderung. Dem dient erst der Honorarbescheid. Es ist auch nicht davon auszugehen, dass die Umsetzung der Prüfbescheide erst nach deren Bestandskraft zu Liquiditätsengpässen führt.

Entsprechend hat der Gesetzgeber die Abwägung, wann das öffentliche Interesse an der Vollziehung überwiegt, bereits vorgenommen: bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung ist dies erst nach der Entscheidung des Zulassungsausschusses der Fall.

Da der Ausschluss der aufschiebenden Wirkung stets die Ausnahme bleiben muss, ist § 87 b Abs. 2 S. 6 SGB V auch keiner erweiternden Auslegung oder gar Analogie zugänglich.

 

3.

Das SG Mainz schloss sich der Ansicht des Klägers an. Aufgrund der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Regressbescheid hätte dieser nicht im Honorarbescheid umgesetzt werden dürfen. Der Einbehalt der Regressumme war daher rechtswidrig.

Die Kehrseite soll allerdings nicht verschwiegen werden:

Die quartalsgleiche Berücksichtigung des Regresses ermöglicht es der KV, die Kürzung direkt im Rahmen der Leistungsbegrenzung über Punktzahlvolumina zu berücksichtigen.

Während bei einer nachträglichen Prüfung oder Umsetzung nach der Rechtsprechung des BSG sozusagen die Bruttosumme zum vollen Punktwert regressiert wird, ist es bei der quartalsgleichen Prüfung möglich, einen möglichen Punktwertverfall durch die Quotierung zu berücksichtigen, so dass unterm Strich nur „netto“ regressiert wird und die Kürzung geringer ausfällt.

Vor der Einlegung des Widerspruchs gegen den Honorarbescheid und der Rückforderung der Gesamtsumme sollte daher der Honorarbescheid daraufhin überprüft werden, wie es sich auswirkt, wenn die regressierten Leistungen zunächst voll berücksichtigt werden. Kommt es dadurch zu einem Punktwertverfall, wird dieser durch den Zinsvorteil einer späteren Zahlung einer niedrigeren Regressumme zumindest bei den derzeitigen Zinssätzen in der Regel nicht ausgeglichen werden.

Die Entscheidung des SG Mainz ist rechtskräftig.